Wien braucht ein Holocaust-Museum

Redebeitrag von Waltraud Barton anlässlich der Eröffnung der temporären Wanderausstellung zu Maly Trostinec im Haus der Geschichte Österreich am 13.06.2019

Sehr geehrter Herr Bundespräsident! Sehr geehrte Frau Botschafterin! Sehr geehrter Herr Präsident Oskar Deutsch! Liebe Frau Dr. Sommer! Meine sehr geehrten Damen und Herren!

Ich habe gestern in der Nacht nach einem langen Bürotag eine Rede geschrieben, die ich jetzt nicht halten werde. Ich wollte eigentlich sofort von meinen Verwandten, der Familie Ranzenhofer erzählen, aber dann habe ich heute in der Früh Radio gehört und jetzt muss ich zuerst von Zahlen und Fakten sprechen statt von Einzelschicksalen. Anders als es im Radiobeitrag hieß, sind in Maly Trostinec sicher mehr als 55.000 Menschen ermordet worden. Diese Zahl nicht um einige Tausend nach oben zu korrigieren, heißt die Leiden der weißrussischen Bevölkerung durch den nationalsozialistische Terror nicht anzuerkennen. Und: Die überwiegende Anzahl der in Maly Trostinec Ermordeten waren keine Juden und Jüdinnen. Den weitaus größten Teil macht die belarussische Zivilbevölkerung aus, jüdische und nicht-jüdische, Partisanen und weiß/russische Kriegsgefangene. Und: In keinem anderen Land hat die Bevölkerung so unendlich unter den Gräueln der Nazis gelitten wie in Belarus. Richtig ist, dass es nach Maly Trostinec – und zwar ausschließlich zwischen Mai und Oktober 1942 – Deportationszüge aus „dem Großdeutschen Reich“ gegeben hat, es waren 16 – jeder Zug mit rund 1000 Personen, alle, ausschließlich alle von ihnen als Juden/als Jüdin verfolgt. Die genauen Zahlen hat Dr. Garscha vom DOEW erarbeitet. Woher kommen sie?

Das Deportationsziel „Maly Trostinec“ bedeutet „Sofortige Ermordung bei Ankunft“ und das ist, wie Sie gleich erkennen werden, ein WIENER Thema. Von den 16 Transporten ist einer aus Königsberg, einer aus Köln, 5 aus Theresienstadt und 9 aus Wien. 2/3 der Transporte kommen also aus Wien, wo die Menschen direkt zum „Ermordet-Werden“ ohne Umwege aus der Gesellschaft ausgeschlossen und zur Mordstätte nach Maly Trostinec deportiert werden. Die Transporte nach Maly Trostinec kamen eben zum überwiegenden Teil nicht aus „deutschen Städten“, die Transporte aus dem heutigen Deutschland wurden fast ausschließlich alle 1941 abgefertigt, also vor der Wannseekonferenz und gingen ins Minsker Ghetto. Das ist etwas absolut Anderes. Es gibt 7 solcher Transporte aus dem „Großdeutschen Reich“ nach Minsk ins Ghetto (alle im November 1941) – jeweils einer aus Hamburg, aus Düsseldorf, aus Frankfurt am Main, aus Berlin, aus Brünn, aus Bremen und aus Wien. Sie alle gehen ins Ghetto von Minsk, das seit Sommer 1941 besteht.

Sagen Sie jetzt nicht, das ist doch egal, wo die Menschen sterben und wie: Nein – es macht einen großen Unterschied, ob Verwandte, Nachbarn, Bürger und Bürgerinnen, Nächste in einen Zug gesetzt werden, um sie in eine weit entfernte fremde Stadt zu verfrachten, damit sie dort in einem Ghetto leben und dabei ihren Tod in Kauf nehmend oder ob ihre Reise der direkte Weg zu einer Mordstätte ist, und damit das einzige und ausschließliche Ziel ihre sofortige Ermordung in Maly Trostinec. Ja, ich bin persönlich betroffen. Mit Malvine Barton. Mit Viktor, Rosa und Herta Ranzenhofer. Sie hat man nicht 1941 ins Ghetto von Minsk geschickt, sondern 1942 nach Maly Trostinec. Nach der Wannsee-konferenz waren sie Teil der Endlösung der Judenfrage geworden. Und diesen Unterschied macht es nicht nur für die Angehörigen, sondern für das ganze Land bis heute. DENN WIR alle, die wir heute in Österreich leben, sind in die Vergangenheit dieses Landes verstrickt und in den Holocaust. Auch wenn es ein Land ist, in dem VIELE Jahrzehnte lang nicht ihre Aufgaben gemacht haben und immer noch nicht ihre Pflicht erfüllen – DENN unsere Aufgabe, unsere Pflicht ist es nämlich zu fragen!! Konkret nachzufragen!! Und auf Antworten zu beharren!! Wo sind unsere NÄCHSTEN hingekommen?? Was ist aus ihnen geworden?? Auch heute, immer wieder – Wo kommen unsere Nächsten hin – heute, die abgeschoben werden, nach Afghanistan kurz vor ihrer Lehrabschlussprüfung??

Dieser Fragepflicht ist in Zusammenhang mit Maly Trostinec das offizielle Österreich 70 Jahre lang nicht nachgekommen, nicht jene, deren Beruf es ist, nicht die Forschungseinrichtungen, Museen, Institutionen, jene, die dafür bezahlt werden. Auch ich als Teil der Zivilgesellschaft habe erst zu fragen begonnen, als ich realisierte, dass ich persönlich betroffen bin, dass auch Mitglieder meiner Familie in Maly Trostinec ermordet worden sind. An einem Ort, von dem ich noch nie etwas gehört hatte. Denn niemand in Österreich hat sich um Maly Trostinec gekümmert, bis ich es getan habe. Seit der Gründung des Vereins „IM-MER Maly Trostinec erinnern“ 2010 arbeite ich ohne Bezahlung und ohne offiziellen Auftrag rund 20 Stunden in der Woche, um Maly Trostinec im kollektiven Gedächtnis Österreichs zu verankern. Bin unbequem und höre nicht auf zu fragen.

Ich frage z.B.: Wer von den Opfern aus Österreich hätte z.B. heute am Tag der Ausstellungseröffnung – also am 13.06. – Geburtstag gehabt? 33 Personen habe ich im Totenbuch gefunden – 4 kamen ins Minsker Ghetto – und 29 von ihnen wurden in Maly Trostinec ermordet. Das jüngste dieser Geburtstagskinder war der 8-jährige Georg Frankl, das älteste Rifka Normann mit 75 Jahren. – Egal für welchen Tag im Jahr ich Geburtstagskinder unter den östereichischen Toten von Maly Trostinec suche – immer finde ich ungefähr 20–30 Namen – an jedem Tag entspricht die Anzahl jener Österreicher und Österreicherinnen, die Geburtstag gefeiert hätten und die in Maly Trostinec ermordet worden sind, einer ganzen Schulklasse – so können Sie sich das vorstellen – egal für welchen Tag – immer ist es eine Schulklasse, ein ganzes Jahr lang, jeden Tag: ausgeschlossen auf die radikalste und endgültigste Weise aus der österreichischen Gesellschaft – durch ihre sofortige Ermordung bei Ankunft. Das ist das Monströse an Maly Trostinec, aber das Monströse liegt nicht in Maly Trostinec, das liegt in Wien, an diesem radikalen Ausschluss, für den uns allen hier die Worte fehlen.

Nur aus Wien gehen so viele Deportationszüge direkt nach Maly Trostinec zum Ermordetwerden – ganz direkt, ohne Umweg, nicht zuerst in ein Lager, in ein Ghetto – ja nicht einmal an eine Selektionsrampe wie in Auschwitz – von Auschwitz reden wir in Österreich und von „industriellen Massenmord“, dabei ist nur ein einziger großer Transport aus Wien nach Auschwitz gegangen – am 17.07.1942 – ein einziger „großer“ Transport, da kann man tatsächlich leicht sagen, das hab ich nicht gewusst, da war ich nicht dabei, das hab ich nicht gesehen.

Aber wir hier in Österreich müssen über MALY TROSTINEC REDEN und das heißt: Höchstpersönliches Ermordet-Werden durch Erschießen, das war ganz und gar nicht „industriell“. Weil das so monströs ist und in Wien Maly Trostinec tatsächlich tot geschwiegen worden ist – und bis zur Gründung des Vereins IM-MER so gut wie unbekannt war – ist es zwar gut, dass heute eine temporäre Wanderausstellung eröffnet wird, die uns von dem Vorrücken der Wehrmacht, der Zerstörung der Stadt Minsk, dem Ghetto in Minsk und dem Lager für Zwangsarbeiter, einem SS-Versorgungsgut erzählt, aber das alles hat mit den aus der österreichischen Gesellschaft Ausgeschlossenen und in Maly Trostinec Ermordeten NICHTs zu tun! Das haben sie alle nicht einmal gesehen!! – Nein, wir hier in Wien brauchen eine ständige Einrichtung, einen Vermittlungsort, der unentwegt die Frage stellt: Warum wurden in Österreich, in Wien so viele Menschen so radikal aus der Gesellschaft ausgeschlossen und ermordet und wieso hat so lange niemand nach ihnen gefragt, nach ihrem Verbleib? Und was können wir heute dafür tun, damit sich Geschichte nicht wiederholt? Was wir hier wirklich benötigen, ist etwas, was es in vielen anderen Städten längst gibt, nämlich ein Holocaust-Museum mitten in dieser Stadt. In Wien, wo die größte deutschsprachige jüdische Gemeinde vernichtet worden ist, gibt es noch immer kein Holocaust-Museum. Das muss sich ändern.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.


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